Richtung Westen zum Start
Ich habe einen Monat Zeit bis zum Start des ersten Trans-Pyrenees-Race. Die ersten Tage begleiten mich Uli und Saily durch Südtirol und die nördliche Lombardei. Danach geht es ohne festen Plan weiter – immer entlang der schönsten Straßen und mit extra vielen Höhenmetern über die Alpen, während eines sommerlichen Wintereinbruchs. Mein Weg führt mich durch Frankreich, wo ich Sofi in Clermont-Ferrand besuche. Danach geht es weiter nach Spanien – einmal quer durch das Land – und bei den Picos de Europa an der Atlantikküste entlang zurück nach Frankreich. Pünktlich zum Start des Trans-Pyrenees-Race komme ich in Biarritz an.
Auf dieser Reise fahre ich gegen mich selbst – als Vorbereitung für das anstehende Trans-Pyrenees-Race. Ich verbringe den ganzen Tag auf dem Rad und lasse mich auf alle Eventualitäten ein. Jede Nacht schlafe ich draußen. Zwar habe ich mir über Jahre ein hochwertiges und leichtes Rad zusammengespart, aber für Hotels, Herbergen, Campingplätze oder Restaurants habe ich kein Geld übrig. Deshalb dient mir mal eine Ritterburg für Kinder auf einem Spielplatz als Nachtlager, ein anderes Mal ein schmaler Wiesenstreifen neben einer Weinplantage – Frühstückssnack inklusive. Ich wechsle zwischen Nächten im Zelt und unter freiem Himmel. Für das Rennen werde ich das Zelt zurücklassen, aber auf der Reise ist es ein Luxus, gelegentlich ein Dach über dem Kopf zu haben.
Manchmal bleibt mir keine andere Wahl, vor allem in Frankreich, wo ich mehrfach in heftige Gewitter gerate. Einmal fürchte ich mich regelrecht um mein Leben, als Blitze in unmittelbarer Nähe meines Zeltes einschlagen. Diese Nacht werde ich nie vergessen. Mein Bruder erzählt mir später von einem ähnlichen Erlebnis in Nordeuropa: Er musste damals mitten in der Nacht sein Zelt im Starkregen abbrechen und in ein nahegelegenes Bauernhaus flüchten.












































Trans Pyrenees Race No.1 Oktober 2019
Einfach gesagt besteht das Rennen darin, so schnell wie möglich auf der spanischen Seite der Pyrenäen vom Atlantik zum Mittelmeer zu fahren und auf der französischen Seite wieder zurück zum Atlantik. Dabei stoppt die Uhr niemals. Verpflegungsfahrzeuge oder externe Hilfe sind verboten. Um Übernachtung, Essen, Trinken, die Route und gegebenenfalls Reparaturen am Rad muss ich mich selbst kümmern.
Auf dem Weg muss ich verschiedene Checkpoints in einer bestimmten Reihenfolge anfahren. Ein Teil der Strecke ist vorgegeben, den Rest kann ich frei wählen, solange ich mich an die Verkehrsordnung halte und zum Beispiel keine Autobahn mit dem Rad befahre. Einige der Checkpoints sind strategisch so platziert, dass man oft vor der Wahl steht: viele Kilometer auf Asphalt bis zum nächsten Checkpoint oder eine kürzere, aber höhenmeterintensive Strecke auf Schotterpisten über hohe Pyrenäenpässe. Ich habe mich immer für den kürzeren Weg entschieden. Mir ging es bei allen Rennen, die ich bestritten habe, immer mehr um die Selbsterfahrung als darum, zu gewinnen oder eine Platzierung zu erreichen. Das Rennen ist der Rahmen, die Grenze ist mein eigener Körper. Die Frage ist: Wie weit lässt er sich an seine Belastungsgrenze bringen?
Vor dem Rennstart bekommt mein Rad noch einen kleinen Service: eine neue Kette und neue Reifen. Außerdem lasse ich den Großteil meines Gepäcks zurück. Das Zelt oder die Badehose, die ich auf der Anreise dabeihatte, werde ich jetzt erstmal nicht brauchen. Das Nötigste muss reichen, damit die vielen anstehenden Höhenmeter nicht anstrengender werden als notwendig.
Ich trage meine Rennradkleidung und habe eine Regen- sowie eine Daunenjacke dabei, dazu ein Merino-T-Shirt, ein zweites Paar Socken, Arm- und Beinwärmer, einen Schlafsack, eine Isomatte sowie einige Ersatzteile und Ersatzschläuche für das Fahrrad. Jede weitere Tasche ist mit Snacks aufgefüllt: Schokolade, Bananen, Nüsse, Trockenfrüchte, Haferriegel, Schokomilch und Getränkepulver.
Den ersten Tag beende ich auf einer Passstraße auf halber Höhe in erster Position. Ich klettere über die Leitplanke und lege mich einfach für ein paar Stunden in den Straßengraben. Das Rennen ist um 4:30 Uhr morgens gestartet, und ich habe seitdem 400 km und 8600 Höhenmeter zurückgelegt. Abgesehen von einem Stopp in einem Supermarkt zur Verpflegung bin ich pausenlos gefahren. Das reicht für heute.
In der Nacht werde ich von einigen Fahrern überholt. Manche fahren durch die Nacht, oft auf Kosten ihrer Durchschnittsgeschwindigkeit. Ich hingegen brauche nach einer gewissen Zeit meinen Schlaf und kann dafür gestärkt und mit neuer Energie am nächsten Morgen zügig weiterfahren. Am Nachmittag des zweiten Tages treffe ich einen dieser Nachtfahrer. Er hat seit dem Start keine Sekunde geschlafen und ist jetzt an der gleichen Stelle wie ich, obwohl ich dazwischen vier bis fünf Stunden geschlafen habe. Zwei unterschiedliche Taktiken, doch am Ende das gleiche Ergebnis.
Die Route führt mich am zweiten Tag durch Andorra. Auf dem Anstieg treffe ich meinen Freund Marin, der ebenfalls am Rennen teilnimmt. Später am Abend begegnen wir uns erneut und feuern uns euphorisch an: „Let’s go to the beach tonight!“ Wir motivieren uns gegenseitig, noch in derselben Nacht das Mittelmeer zu erreichen und am Cap de Creus unseren Stempel am Checkpoint zu holen. Unsere Wege trennen sich erneut. Kurz darauf halte ich in einem kleinen französischen Dorf an. Es gibt eine öffentliche Toilette und sogar eine Dusche – eine Gelegenheit, die ich sofort nutze. Wer weiß, wann ich das nächste Mal die Chance auf eine Dusche bekomme? Danach fahre ich noch ein paar Stunden in die Nacht hinein, bis ich erneut an meine Grenzen stoße. Nach 320 km und 7000 Höhenmetern lege ich mich etwa 100 km vor der Küste an den Straßenrand und schlafe ein paar Stunden.
Am dritten Tag geht es zur Abwechslung flach zum Cap de Creus und wieder zurück. Zurück in den Pyrenäen beginnt der Abschnitt „Rue de Pyrénées“: eine lange, vorgegebene Strecke entlang der französischen Pyrenäen auf einer bekannten Radreiseroute über zahlreiche französische Pyrenäenpässe. Am Abend gerate ich in einen schlimmen Sturm mit Starkregen, extremen Temperaturen und starkem Wind. Vor und hinter mir brechen Bäume und stürzen auf die Straße. Obwohl ich motiviert bin, entscheide ich mich anzuhalten – gegen diesen Sturm anzukämpfen wäre zu kräftezehrend. In einem Dorf finde ich einen überdachten Brunnen. Nach einer kurzen Katzenwäsche lege ich mich in meinen Schlafsack in den windgeschützten Bereich und schlafe ein paar Stunden. Der dritte Tag hat mich 280 km und 4800 Höhenmeter weitergebracht.
Der vierte Tag beginnt zäh. Nach ein paar Kilometern in der Morgendämmerung packe ich meinen Schlafsack erneut aus und lege mich noch ein paar Stunden in eine Bushaltestelle, bis mich die Sonne weckt. Den ganzen Tag kämpfe ich mich über die vorgegebenen Pässe: Col de Garavel, Col de Port, Col de Portel, Col de Portet d’Aspet und Col de Menté. Spät in der Nacht schlafe ich unter dem Vordach einer kleinen Kirche ein. Trotz großer Überwindung habe ich an diesem Tag 250 km und 4700 Höhenmeter geschafft.
Mit neuer Energie und viel Motivation starte ich in den fünften Tag. Mein Ziel: heute ins Ziel kommen. Gleichzeitig mache ich mir keine allzu große Hoffnung, da noch ein verdammt weiter Weg vor mir liegt. Am Morgen treffe ich einen französischen Reiseradler in einer Bäckerei. Wir unterhalten uns über unsere Vorhaben. Er erzählt mir, dass er die „Rue de Pyrénées“ fährt und bereits seit mehreren Tagen unterwegs ist. Als ich ihm erkläre, dass ich gestern im Osten gestartet bin und noch neun Pässe überqueren muss, um im Westen anzukommen – und dass ich das noch heute schaffen will – schaut er mich ungläubig an, schüttelt den Kopf und lässt mich stehen.
Am fünften Tag stehen unter anderem der Col de Peyresourde, Col d’Azet, Hourquette d’Ancizan, Col du Tourmalet, Col d’Aubisque, Col de Marie-Blanque und der Col d’Izpegi auf dem Programm. Ab dem späten Nachmittag regnet es ununterbrochen, meine Powerbanks sind leer, mein Handyakku fast tot, mein Navigationsgerät hat gerade noch genug Ladung. Mir bleibt nichts anderes übrig, als weiterzufahren. Jetzt komplett ohne Strom dazustehen wäre fatal. In der tiefen Nacht komme ich weder an einer geöffnete Tankstellen noch andere Verpflegungsmöglichkeiten vorbei. Ein Liter Cola den ich mir am Nachmittag gekauft habe rettet mich vor dem Zusammenbruch. In dichtem Nebel und Regen übersehe ich einen Kreisverkehr und streife ein Pferd, das mitten auf der Straße steht – meine Aufmerksamkeit und Konzentration sind am Ende.
Lange nach Mitternacht komme ich nach 380 km und 9500 Höhenmetern als Vierter in Biarritz an. Eine spätere Disqualifikation eines anderen Fahrers lässt mich sogar auf den dritten Platz vorrücken. James, ein Fahrer, der das Rennen abgebrochen hat, beobachtet den Finisher vor mir und mich per Online-Tracking und sorgt dafür, dass wir uns direkt nach Ankunft in ein Bett legen und ausschlafen können. Das werde ich ihm nie vergessen.
Einige Tage später findet die Finisher-Party in einem gemütlichen Strandcafe statt. Danach reise ich mit Zug und Bus zurück nach Innsbruck – lange bevor „Lost Dot“ alternative Anreise- und Abreiseoptionen in einer eigenen Rennklasse wertschätzt. Für mich war es immer selbstverständlich, nicht mit dem Flugzeug zu einem Radrennen anzureisen oder abzureisen. Anders hätte ich es mir ohnehin nicht leisten können.














Alle Bilder aus diesem Beitrag wurden von mir mit einem IPhone SE erstellt.
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